10 | 06 | 2019 | Schweiz | 0 | 8894 |
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Der Fall Fählensee
Der massive und anhaltende Fangrückgang im Appenzeller Fählensee war Fischern und Behörden über lange Zeit ein Rätsel. Mit einer gross angelegten Untersuchung ist man dem Verursacher nun auf die Spur gekommen.
Dichte Nebelschwaden zieren den kühlen Oktobermorgen über dem Appenzeller Fählensee, als die 18 Grundnetze mit gekonnten Handgriffen eingeholt werden. Nervosität und Spannung liegen in der Luft – denn noch ist unklar, ob er wirklich da ist, der grosse Räuber. Die Rede ist von Salvelinus namaycush, dem kanadischen Seesaibling: Von Fischern für sein Fleisch und anmutiges Aussehen geliebt, von andern Fischen als gieriger Räuber gefürchtet. Könnte sein Appetit wirklich der Grund sein für die unerklärlichen Fangrückgänge im idyllisch gelegenen Fählensee im Appenzeller Alpstein? Oder haben diese doch andere Ursachen?
Rätselhafter Fangrückgang
Seit 15 Jahren brechen die Fangerträge im Fählensee dramatisch ein. Konnten in Spitzenjahren noch jährlich über 1400 Fische angelandet werden, so müssen sich die Fischer heute mit 150 pro Jahr zufriedengeben.
Über die Gründe für den Fangrückgang gab es viele Vermutungen und wilde Spekulationen, die bis hin zu Gewässerverschmutzungen und Vergiftungen im Bergsee reichten. Eine vom Kanton Appenzell Innerrhoden in Auftrag gegebene Studie kam zu einem anderen – für viele Fischer vielleicht weniger sympathischen – Ergebnis. Nachgegangen waren die beauftragten Gewässerökologen vielen Spuren: Ist der See zu nährstoffarm – oder doch zu nährstoffreich? Liegt es am sauerstoffarmen Tiefenwasser oder nehmen schlicht weniger Fischer die lange Wanderung zum Fählensee auf sich? Die Untersuchungen dazu lieferten keine schlüssige Antwort. Doch etwas anderes stach den Ökologen ins Auge: Aus den Daten von Fischbesatz und Fangerträgen liess sich ein Muster erkennen! Könnten eingesetzte Namaycush für den Fangrückgang am Fählensee verantwortlich sein?
Entwicklung von Besatz und Fangertrag
Seit Mitte der 1980er-Jahre werden fischereiliche Bewirtschaftungsmassnahmen am Fählensee durchgeführt. Durch den Besatz mit Namaycush-Sömmerlingen schnellten die Fangerträge bis 1991 in die Höhe, brachen daraufhin jedoch von 1488 gefangenen Fischen (1991) auf 770 (1992) plötzlich ein. Nach einem erneuten Besatz Mitte der 1990er-Jahre stiegen die Fangzahlen wieder kurzfristig an, bevor diese zwischen 2002 und 2004 erneut um 60 Prozent abnahmen. Man stand vor einem Rätsel. Wie lassen sich derartige Fangeinbrüche nach starken Fanganstiegen erklären?
Die erstbesetzte Namaycush-Generation von 1984 war bis 1991 auf eine Länge von 50 bis 70 cm angewachsen. Im Alter von sieben Jahren lassen sich Namaycush nicht mehr mit Insekten und Fischlarven abspeisen. Auf dem Speiseplan stehen nun definitiv grössere Fische. Überschlagsmässige Berechnungen zeigten schnell, dass aufgrund des enormen Nahrungsbedarfs bereits wenige ausgewachsene Namaycush ausreichen, um einen Einbruch bei den fangfähigen Fischen zu bewirken.
Auf die rückläufigen Fangzahlen wurde mit immer grösseren Besatzmengen reagiert. Zunächst noch mit jährlich 2000 Namaycush- und 10?000 Bachforellensömmerlingen, ab 2007 mit einheimischen Seesaiblingen (Salvelinus umbla) anstelle der Namaycush. Doch der hohe Besatzaufwand zahlte sich nicht aus. Die Fangerträge sanken weiterhin, bis 2012 mit 26 gefangenen Tieren der Tiefpunkt erreicht wurde. Die Besatzfische landeten nicht im Feumer der Angler, sondern wahrscheinlich in den Mägen der Namaycush.
Von der Idee zur Sonderfangaktion
Den Behörden schien die Hypothese, wonach die grossen Namaycush im Fählensee den Fischbestand beträchtlich reduzierten, schlüssig. Sie gliederten das weitere Vorgehen in drei Etappen:
- Sensibilisierung und Plausibilisierung
- Bestandesreduktion Namaycush
- Zukünftiges Fischereimanagement
Zuerst wurde über die mutmasslichen Gründe des Fangrückgangs informiert. Es folgte die Abschaffung des Fangmindestmasses für Namaycush und auf Antrag der Fischer eine teilweise Aufhebung des Nachtfangverbots.
Mit Echolotaufnahmen konnten im Sommer 2018 rund zehn Fische mit Längen über 50 cm lokalisiert werden, worauf eine Sonderfangaktion zur Reduktion grosser Namaycush geplant wurde.
Am 3. Oktober 2018 war es schliesslich soweit. Die grossmaschigen Grundnetze wurden über den gesamten See verteilt gesetzt und am nächsten Morgen wieder eingeholt.
Fischers Fisch im Magen des Jägers
Die beiden Männer auf dem Boot grinsen zufrieden in die Runde, als das Boot mit den eingeholten Netzen am Ufer des Sees anlegt. 13 grosse Fische sind in die Netze gegangen. Darunter sieben grosse Namaycush. Der längste misst 73 cm und ist 4,4 kg schwer. Die gefangenen Fische zeigen eine klare Dominanz von grossen, adulten Namaycush und Bachforellen mit Längen von mehr als 54 cm. Obwohl auch kleinere Seesaiblinge bis 34 cm in die Netze gehen, werden keine kleineren Namaycush gefangen.
Die Mageninhaltsanalyse der gefangenen Fische bestätigt die räuberische Lebensweise der Namaycush auf eindrückliche Weise. Jeweils zwei bis drei Futterfische mit Längen zwischen 14 und 27 cm können den Mägen der gut genährten Namaycush entnommen werden. Hauptsächlich handelt es sich dabei um einheimische Seesaiblinge.
Anhand der Fischschuppen wurde im Labor das Alter der entnommenen Fische bestimmt. Die gefangenen Namaycush waren alle 5 bis 7 Jahre alt (Jahrgänge: 2011 bis 2013), sie sind also nicht Überlebende des offiziellen Besatzes, welcher 2007 endete. Ob es sich bei den gefangenen Räubern um naturverlaichte oder illegal eingesetzte Tiere handelt, bleibt ungeklärt. Allerdings bietet der ziemlich nährstoffreiche Fählensee aufgrund der Veralgung und Verschlammung des Sediments sowie der Sauerstoffarmut im Winter nicht ideale Laichbedingungen.
Biometrische Daten der gefangenen Fische
Länge | Gewicht | Jahrgang | Mageninhalt | |
Namaycush | 75 cm | 4650 g | 2011 | Seesaibling: 20 cm Seesaibling: 21 cm |
Namaycush | 69 cm | 3700 g | 2011 | Seesaibling: 18 cm Bachforelle: 17 cm Bachforelle: 14 cm |
Namaycush | 73 cm | 4400 g | 2011 | unbestimmbar: 15 cm Seesaibling: 21 cm Seesaibling: 14 cm |
Namaycush | 70 cm | 3850 g | 2012 | Seesaibling: 27 cm Seesaibling: 17 cm |
Namaycush | 66 cm | 2800 g | 2013 | Seesaibling: 22 cm unbestimmbar: 15 cm unbestimmbar: 15 cm |
Namaycush | 57 cm | 1600 g | 2013 | Seesaibling: 14,5 cm unbestimmbar: 12 cm |
Namaycush | 59 cm | 1950 g | 2012 | leer |
Bachforelle | 54 cm | 1750 g | 2013 | leer |
Bachforelle | 61 cm | 2250 g | 2011 | leer (Schleim, Wasser) |
Seesaibling | 34 cm | 550 g | n. b. | Seesaibling-Rogen |
Seesaibling | 32 cm | 300 g | n. b. | leer |
Seesaibling | 28 cm | 150 g | n. b. | leer (Schleim) |
Alet | 55 cm | 2150 g | n. b. | Algen |
Zunehmender Beutedruck
Auf Basis der Schuppenanalyse konnten die jährlichen Wachstumsraten und Gewichtszunahmen bestimmt werden, wodurch wiederum Rückschlüsse auf den jährlichen Futterkonsum möglich sind.
Dabei steigt der Fischverzehr des Namaycush mit zunehmendem Alter stark an. Eine Studie aus Nordamerika (Stewart et al. 1983) konnte zeigen, dass das Verhältnis zwischen Gewichtszunahme und aufgenommener Nahrung von 1:4 im 1. Lebensjahr bis 1:32 im neunten Jahr ansteigt. Die zum Fangzeitpunkt fünf- bis siebenjährigen Namaycush im Fählensee haben somit bis zu ihrem Tod rund 206 Kilo frischen Fisch gefressen. Ohne Bestandesreduktion hätte der Fischkonsum der sieben Namaycush bis 2020 bereits 342 kg betragen. Insofern wird auch verständlich, weshalb wenige Tiere ausreichen, um derartige Fangrückgänge zu bewirken. Ein grosser Anteil des Fischbestands ist also im Namaycush-Magen anstatt auf dem Teller der Fischer gelandet.
In Zukunft dürfte sich das Räuber-Beute-Verhältnis zugunsten der kleineren Fische entspannen, wovon hoffentlich auch die Fischer profitieren. Ein Effekt auf die Fangerträge wird frühestens in zwei Jahren sichtbar sein. Allerdings bleibt unklar, ob noch grosse Namaycush im Fählensee leben. Vorerst verzichtet der Kanton Appenzell Innerrhoden auf weitere Besatzmassnahmen und beobachtet die Entwicklung der Fangzahlen.
Vergleich mit anderen Schweizer Bergseen
Der unerschöpfliche Appetit der «Kanadier» zeigte sich bereits in anderen Schweizer Bergseen. Im Lago Tom, Lago Cadagno und Lago Tremorgio im Tessin müssen derartige Sonderfangaktionen alle 6 bis 7 Jahre durchgeführt werden, da die Bestände durch Naturverlaichung selbsterhaltend sind. Im Engadin ist die Problematik etwa vom Silsersee bekannt. Die Fangzahlen der Seesaiblinge brachen zeitweise stark ein, wobei der Namaycush einen nicht zu vernachlässigenden Räuberdruck ausübte.
Jeder Bergsee weist vielfältige Aspekte auf, die in komplexen Verbindungen zueinander stehen und welche es bei der Entwicklung einer geeigneten Besatzstrategie zu berücksichtigen gilt. Insbesondere auch die Artenzusammensetzung der Besatztiere und deren Räuber-Beute-Beziehungen sind dabei von grosser Bedeutung. Unter Umständen kann der beliebte Angelfisch zur grössten Konkurrenz des Fischers heranwachsen. Fischers Fisch frisst Fischers Fisch ...
Die Autoren
Fabian Peter ist Gewässerökologe bei der Firma AquaPlus AG
und Projektleiter der limnologischen und fischereilichen
Untersuchungen an den Alpsteinseen.
Ueli Nef ist Jagd- und Fischereiverwalter im
Kanton Appenzell Innerrhoden und ausgebildeter
akademischer Jagdwirt.
Nicole Egloff ist Fischbiologin bei der
Firma AquaPlus AG.
Dr. Bruno Polli ist Fischbiologe und war vor seinem
Ruhestand Leiter der Fachstelle Fischerei im Kanton Tessin.
Danilo Foresti ist Biologe und leitet die Fachstelle
Fischerei des Kantons Tessin.
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